Mittwoch, 10. August 2016

"Der Handlungs- und Behandlungsbedarf steigt"


Interview mit Hans-Peter Unger




Immer mehr Fehltage werden durch psychische Erkrankungen verursacht. Wie erklären Sie diesen Trend?

Man muss zwischen der rasanten Entwicklung der AU-Zahlen und der tatsächlichen Prävalenz psychischer Krankheiten unterscheiden:  Es gibt heute nicht mehr psychisch kranke Menschen als vor zehn oder zwanzig Jahren, sie werden aber besser diagnostiziert und weniger stigmatisiert.

Fakt ist, dass der Handlungs- und Behandlungsbedarf weiter steigt. Epidemiologische Studien zeigen, dass rund 40 Prozent der Menschen in Deutschland mindestens einmal im Leben an einer behandlungsbedürftigen psychischen Krise erkranken. Viele Fälle bleiben also auch heute noch unerkannt.

Warum werden psychische Erkrankungen in Ballungszentren häufiger diagnostiziert als im ländlichen Raum?

Der Stresspegel ist in Großstädten höher. Untersuchungen belegen, dass Menschen, die auf dem Land aufwachsen, weniger auf Stress anspringen als Städter. Außerdem ist in der städtischen Community das Gesundheitsbewusstsein größer. Psychische Probleme werden deshalb schneller als solche benannt und diagnostiziert. Nicht zuletzt korreliert die Inanspruchnahme von Behandlungen auch mit der Dichte des Angebots – und die ist in Städten naturgemäß höher als in ländlichen Gegenden.

Sind psychische Erkrankungen heute salonfähiger als vor zehn Jahren?

Es gibt in jedem Fall einen Shift zu Psychothemen und eine Abnahme der Stigmatisierung. Heute spielen körperliche Belastungen in der Arbeitswelt nicht mehr eine so große Rolle wie beispielsweise in der Produktionsgesellschaft der 70er-Jahre. Wir haben kaum noch Probleme mit Hygienemängeln, die Arbeitsplatzbedingungen sind deutlich besser geworden. Krankheit steht immer auch im gesellschaftlichen Kontext.

Früher wurde beispielsweise die Krankheit Neurasthenie mit der Industrialisierung und der Verdichtung des Verkehrswesens begründet, heute sind es Digitalisierung und globale Vernetzung, die wir mit unseren psychischen Beschwerden in Verbindung setzen. Für viele gehört der Satz „ich bin gestresst“ mittlerweile zum guten Ton, insofern kann man schon sagen, dass psychische Leiden ziemlich en vogue sind.

Das zeigt auch der vor einigen Jahren inflationär benutzte Begriff des Burnouts …

Die Burnout-Diskussion ist auch eine Folge der veränderten psychiatrischen Diagnostik. Zu Zeiten als die Diagnoseklassifikation noch nach dem Systems ICD 9 lief, wurde das jeweilige Modell des Krankheitsentstehens in die Diagnose mit einbezogen. Eine Depression konnte beispielsweise eine Reaktion auf ein belastendes Ereignis sein, eine biologische Ursache haben oder Ausdruck eines biografischen Konflikts sein.

Heute haben wir mit dem ICD 10 eine beschreibende Diagnostik ohne Berücksichtigung der Ursache. Deshalb wird beispielsweise im öffentlichen Diskurs ein „leerer“ Depressionsbegriff an ein gesellschaftlich wahrgenommenes Unbehagen geknüpft und so gefüllt: „Arbeit macht krank“scheint eine logische Schlussfolgerung zu sein – das erklärt auch die rege Burnout-Diskussion in den letzten Jahren.

Sie setzen sich aktiv für betriebliche Prävention ein. Wie kann man sich vor psychischen Krankheiten schützen?

Wichtig ist, dass körperliche und seelische Warnzeichen rechtzeitig erkannt werden und das innere Gleichgewicht zwischen Beanspruchung und Regeneration bewahrt bleibt. Es ist zunächst Sache des Einzelnen, hierauf zu achten. Doch auch die Unternehmen tragen Verantwortung für die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Workshops mit Führungskräften sind deshalb wichtig, um an den entscheidenden Stellen zu sensibilisieren.

 Im besten Fall steuert der Chef aktiv gegen, bevor der Mitarbeiter ernsthaft krank wird. Vor allem, wenn Change-Prozesse anstehen, rücken die Emotionen in den Vordergrund. Die für das Anpacken der Veränderung notwendige Motivation kann schnell in negativen Gefühlen von Angst, Wut und Resignation steckenbleiben. Daran scheitern entscheidende Veränderungsprozesse in Unternehmen."


Hans-Peter Unger ist Psychiater und Psychotherapeut, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie in der Asklepios-Klinik Hamburg-Harburg.



Quelle: www.dak.de

10 Kommentare:

  1. Langzeitstudien in Großbritannien haben gezeigt, daß autonomes und selbstbestimmtes Arbeiten entscheidend für die Lebenszeit und das Wohlbefinden ist. Bei Hugendubel ist seit einem Jahrzehnt der gegenteilige Prozeß zu beobachten: Arbeitsverdichtung und Dequalifizierung. Interessant wäre die Entwicklung des Krankenstandes bei Hugendubel.

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  2. Bezeichnend für die Situation bei Hugendubel: Mitarbeiter einer bestimmten Abteilung ersaufen in Arbeit. Stelllt die Firma nun vielleicht einen Mitarbeier mehr ein? Nein! Sondern die Betroffenen werden zu einem Seminar über "Zeitmanagement" geschickt.

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  3. Stimmt und es werden immer mehr überflüssige Seminare mit dem KVP Teams ins Leben gerufen, vermutlich, weil man deren stellen ja irgendwie erhalten muss. Vielleicht sollte man sie mal wieder zum Arbeiten in den Filialen animieren. Also- richtig arbeiten!

    Mit dieser Art Workshops hält man die Filiale über Tage vom arbeiten ab. Da wird die Filiale in Schutt und Asche hinterlassen, weil in diesen Tagen niemand zum arbeiten kommt- alle werden blockiert.

    Und dann verziehen sich die KVP Trainer wieder und denken sich den nächsten Mist aus.

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    1. Treffender hätte es nicht gesagt werden können.
      Wenn es nicht so tiefgreifende Folgen hätte, wäre es genial - jeder muß es machen, keiner braucht es, niemand darf ernsthaft den Sinn dieses Projekts in Frage stellen... Erinnert irgendwie an Stuttgart21.

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    2. Auch ich habe gehört, dass da schon wieder was am Anrollen ist. Kann man das eigentlich betriebsratsseitig nicht stoppen?

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    3. Allein im September sind wohl wieder zwei solcher Veranstaltungen geplant. Verlorene Zeit, die in den Filialen wirklich sinnvoller genutzt werden könnte. Meine Filialleitung fehlt dann vor Ort, und wir dürfen es durch Überstunden ausbaden. Vielen Dank auch!

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    4. Daran sieht man doch auch, wie knapp das Personal geplant ist. Wenn ein Laden zusammenbricht, wenn die Filialleitung nicht im Haus ist, läuft doch sowie was schief. Die Filialleiter sollten eigentlich nicht von morgens bis abends im Laden stehen, die haben einen anderen Job. Natürlich aushelfen usw, aber wenn die Läden so geplant sind, dass die Leitungen voll eingeplant sind, dann ist doch das ganze System krank.

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    5. Wieso krank? Die GL hat herausgefunden, dass man mit einer Notbesatzung den Laden auch dauerhaft schmeissen kann. Dazu jahrelang keine Gehaltserhöhung. Das läuft alles auf Verschleiß der Beschäftigten hinaus. Aber wie gesagt: funktioniert doch perfekt!

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    6. Trotzdem krank. Und dann wundern sie sich wenn vielleicht der Filialleiter die Filiale nicht leitet.... Wenn die Mitarbeiter krank werden....die Einkäufer nicht zum Einkaufen kommen...aber Hauptsache, das KVP Team kann seine "Workshops" durchführen. Ich wäre auch dafür, wenn man sich mal wieder auf das Arbeiten an sich besinnen könnte. Damit wird nämlich der Umsatz gemacht.

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  4. Exakt. Hoffentlich wird dein Kommentar nicht gelöscht.

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